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Keine Panik bei Strahlung

Wie bringt man es fertig, ein populärwissenschaftliches Buch über ein schwieriges und abstraktes Thema wie Strahlung, insbesondere radioaktive Strahlung, so zu schreiben, dass es der Leser wie einen Kriminalroman kaum mehr aus der Hand legen kann? Das Rezept ist einfach: Man vermittle das Wissen in kleinen Häppchen.

Der Erkenntnisfortschritt wird im Buch von Timothy J. Jorgensen über Strahlung eng mit dem historischen Hintergrund und den Biographien mit den Charakterzügen der dafür verantwortlichen Wissenschafter verbunden. Dazu hat er zahlreiche erheiternde, aber oft auch nachdenklich stimmende Anekdoten gemischt.

In dieser Schreibtechnik ist Jorgensen, Professor für Strahlenmedizin an der Georgetown University in Washington (USA), ein echter Meister. Nachteilig ist allerdings, dass ein solches Buch recht lang wird. Dennoch ist es unmöglich, von Jorgensen nicht gefesselt zu werden. Den Begriff „Strahlung“ dem Nichtwissenschafter zu vermitteln, war für den Autor eine enorme Herausforderung. Denn Strahlung ist nicht gleich Strahlung.

Verschiedene Kategorien

Die beim Betrieb des Handys oder in der Küche benutzten Mikrowellen und die in der Arztpraxis eingesetzten Röntgenstrahlen haben ganz andere Auswirkungen, obwohl es sich in beiden Fällen um elektromagnetische Wellen handelt. Dazu kommt, dass zwei völlig verschiedene Kategorien abgedeckt werden mussten. Denn abgesehen von der elektromagnetische Strahlung (Radiowellen, Infrarot, sichtbares Licht, Ultraviolett, Röntgenstrahlen, Gammastrahlen) gibt es auch die korpuskulare Strahlung (subatomare Teilchen wie Elektron, Proton, Neutron und Heliumkern).

Logischerweise bespricht Jorgensen zuerst das lebenswichtige sichtbare Licht. Es bildet zwar nur einen winzigen Ausschnitt aus dem gesamten elektromagnetischen Spektrum, ist aber eine Art „Wasserscheide“. Auf der langwelligeren, energiearmen Seite folgen nämlich Infrarot, Mikrowellen und Radiowellen; sie sind grundsätzlich unbedenklich und können im Körper lediglich Wärme erzeugen. Doch die auf Violett folgende, energiereichere, ionisierende Strahlung kann lebenswichtige bio-organische Moleküle, insbesondere DNA beschädigen. In diesem Teil des Buches werden die Entdeckung der Röntgenstrahlung durch Conrad Röntgen (1845-1927) und der Teilchenstrahlung durch Ernest Rutherford (1871-1927) akribisch geschildert. Am anderen Ende des Spektrums erscheint Guglielmo Marconi (1874-1937), der als Schöpfer der weiträumigen Kommunikation mittels Radiowellen gilt.

Die Auswirkungen

Im zweiten Teil des Buches werden die Auswirkungen ionisierender Strahlung auf den menschlichen Körper behandelt. Sehr traurig ist die Geschichte der „Radium Girls“, die in der amerikanischen Uhrenindustrie radiumhaltige Leuchtziffern auf die Zifferblätter malten. Ihre feinen Pinsel „spitzten“ sie immer wieder mit Lippen und Zunge, wobei sie Spuren von Radium aufnahmen.

Das Radium setzte sich wie das damit chemisch verwandte Calcium in den Knochen ab, die von innen her bestrahlt und dadurch brüchig wurden. Dies führte in den 1920er Jahren zum qualvollen Tod zahlreicher blutjunger Frauen. In der Schweizer Uhrenindustrie gab es ähnliche Fälle, doch wurde dieser Skandal totgeschwiegen. Jedenfalls hat man seither gelernt, mit energiereicher, ionisierender Strahlung sehr behutsam und sicherheitsbewusst umzugehen.

Vor- und Nachteile des Röntgens

Im dritten Teil seines Buches wägt Jorgensen anhand anschaulicher, praxisbezogener Beispiele die gesundheitlichen Vorteile einer Röntgenuntersuchung gegen das dabei erhöhte Risiko ab, später an strahlenbedingtem Krebs zu erkranken. Bei einem Knochenbruch ist das Röntgen anscheinend sehr vorteilhaft; bei einer Mammographie nur noch marginal, bei einer Computertomographie des ganzen Körpers überwiegen oft die Nachteile der Strahlenbelastung.

Wenig mit dem Titel des Buches zu tun hat die allzu gründliche Schilderung der Unfälle von amerikanischen B-52-Bombern, die Wasserstoffbomben transportierten. Es passierte zwar nichts Gravierendes, doch die Leichtfertigkeit mit der damals mit Waffen umgegangen wurde, die auf einen Schlag Millionen von Menschenleben auslöschen können, bringt den Leser zum Schaudern. Akribisch werden auch die Kernschmelz-Unfälle von Kernkraftwerken behandelt, wobei ja nur in Tschernobyl strahlungsbedingte Todesopfer zu beklagen waren.

Bedauernswert ist andererseits, dass Jorgensen die in modernen Uhren mit Tritium-Leuchtindexen weiterhin verwendeten Betalights sowie die Höhenstrahlung oder kosmische Strahlung und den Geigerzähler völlig ausgelassen hat. Erwähnt ist jedoch zum Abschluss die vom französischen Physiker Prosper-René Blondlot (1849-1930) angeblich „entdeckten“ aber rein imaginären N-Strahlen. Klassischer Anschauungsunterricht zur Tatsache, dass selbst prominente Naturwissenschafter Opfer von Selbstbetrug und Wunschdenken werden können.

Bild: Das Buch „Strange Glow. The Story of Radiation“ von Timothy J. Jorgensen ist für CHF 26.80 erhältlich.

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