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Ein Herz für Handgriffe

In La Chaux-de-Fonds bildet die Organisation ORIF Menschen aus und orientiert sie neu, deren beruflicher oder schulischer Werdegang unterbrochen wurde. Im Uhrenatelier verbindet sich die Sorgfalt der Handgriffe mit dem Erlernen eines neuen Rhythmus, eines neuen Berufs, neuer Kompetenzen und dem Wiederaufbau von Selbstvertrauen. Hier werden sowohl die Uhrwerke als auch die beruflichen Perspektiven feinjustiert.

Hinter den Fenstern einer hellen Werkstatt antwortet das Klappern der Schraubenzieher dem präzisen Reiben der Pinzetten. Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieser Ort nicht von einem gewöhnlichen Uhrenatelier. Doch hier zählt jeder Handgriff doppelt: Er formt eine berufliche Zukunft und gibt neue Perspektiven. Seit 1948 nehmen die elf Standorte der ORIF (Organisation romande d’intégration et de formation) Menschen auf, die sich integrieren möchten: Schulabbrecher, Erwachsene mit gesundheitlichen Problemen, Menschen mit ADHS, Opfer eines Arbeitsunfalls, einer Krankheit oder eines Burn-outs. Ihre Aufgabe? Jedem zu ermöglichen, einen Beruf, einen Rhythmus, einen Platz in der Arbeitswelt (wieder) zu finden. Die Ausbildungsangebote sind vielfältig: Büro, Handel, Logistik, Landschaftsbau, Informatik, Gastronomie… und Uhrmacherei.

Der Rahmen als Orientierung, der Mensch als Massstab

Die ORIF handelt im Auftrag der Invalidenversicherung (IV). Die Leistungsbezüger werden zur Beurteilung, Ausbildung oder Umschulung an sie verwiesen. Die seit Jahrzehnten bewährte Methode umfasst fünf Schritte: Aufnahme im Auftrag, Orientierung und Tests, individueller Werdegang, regelmässige Standortbestimmung mit der IV und schliesslich die Hilfe bei der Vermittlung in ein Unternehmen.

Die Realität der Werdegänge folgt jedoch nie einem klaren Modell. Zertifizierungen, Praktika, Jobcoaching, Begleitung am Arbeitsplatz, Schnupperpraktika, Orientierung, Umschulung, Arbeitstraining, Ausbildung: Die Kombinationsmöglichkeiten sind vielfältig. Die Massnahmen können sich überschneiden, ergänzen oder in letzter Minute ersetzt werden; nichts ist in Stein gemeisselt. Jede Massnahme wird individuell auf die Bedürfnisse des Begünstigten abgestimmt – so einfach und so komplex.

Ausbilden ist mehr als nur unterrichten

In der Uhrenwerkstatt in La Chaux-de-Fonds vermitteln Augusto Falessi und Samantha Izquierdo, beide ausgebildete „Maîtres socioprofessionnels“ (MSP), weit mehr als nur Fachwissen. Nach mehreren Jahren in der Produktion und Qualitätskontrolle haben sie sich für den Weg der Ausbildung und Betreuung entschieden. „Ich habe es schon immer geliebt, junge Menschen im Unternehmen auszubilden“, erzählt Augusto. „Hier haben wir die Zeit, es anders zu machen, den Rahmen der Person anzupassen.“

Der Werkstattbereich ist in drei sich ergänzende Bereiche unterteilt: Der erste ist der Qualität gewidmet und umfasst Schritte wie die visuelle Sortierung und die Verwendung von Profilprojektoren der Marke Marcel Aubert. Der zweite Bereich ist der Uhrenmontage gewidmet und bildet die Arbeitsabläufe und Anforderungen einer Fertigungsstrasse nach; der dritte Bereich ist auf Entdeckung und Orientierung ausgerichtet. Die Werkbänke sind alle ergonomisch und angepasst.

Unter den Auszubildenden ist der 38-jährige Gonçalves Martins, der eine Ausbildung in Mikromechanik absolviert hat und nun an einer Eingliederungsmassnahme teilnimmt, um seine Arbeitsfähigkeit nach einer Mobilitätsbeeinträchtigung zu beurteilen. „Ich wurde von der IV für eine Eingliederungsmassnahme hierher verwiesen“, erklärt er. „Ich wollte einen Beruf finden, der mir gefällt, aber auch sehen, was ich körperlich noch leisten kann. Wir haben mit 50 Prozent angefangen, dann konnte ich jeden Monat ein wenig mehr arbeiten. Heute arbeite ich zu 70 Prozent und teste, ob 80 Prozent möglich sind. Was ich hier schätze, ist, dass man mir zuhört und mich Dinge entdecken lässt. Bei ORIF habe ich mein Selbstvertrauen zurückgewonnen, und meine Neugier.“

Gemeinsam betreuen Samantha und Augusto 14 Personen: Auszubildende im Bereich EBA oder EFZ, aber auch Personen in Wiedereingliederungs- oder Bewertungsprogrammen. „Die Anfänge sind sehr unterschiedlich“, erklärt Samantha. „Einige wissen, dass sie hier arbeiten wollen, andere entdecken den Beruf erst. Wir versuchen, zwischen den Gesten und Worten zu lesen. Manchmal liegt die Schwierigkeit nicht in der Technik, sondern in der Konzentration, dem Selbstvertrauen oder der Ausdauer.“ Ihre Aufgabe geht weit über das reine Fachwissen hinaus: Das ist die Bedeutung des „S“ in „MSP“, wo die Begleitung eine wesentliche Rolle spielt. Die beiden Betreuer sind abwechselnd Pädagogen, Vermittler, Koordinatoren und manchmal Vertraute. „Man muss improvisieren können“, sagt Augusto. „Von einem Tag auf den anderen kann sich alles ändern: ein Teilnehmer fehlt, es gibt eine Krise, eine Bewegung ist aufgrund von Schmerzen unmöglich. Wir passen uns an, wir reagieren.“ Aber bei ORIF bedeutet Begleitung nicht Nachsicht. Die technischen und verhaltensbezogenen Anforderungen sind die gleichen wie in der Industrie: keine „Sonderbehandlung“, keine Sonderrechte. „Die Menschen verlassen uns bereit für das Unternehmen“, so Augusto. „Das Ziel ist, dass sie sich dauerhaft integrieren können.“

Der wahre Gradmesser für Erfolg ist hier eine erfolgte Vermittlung. Wenn es die Konjunktur zulässt, aktivieren Samantha und Augusto ihr Netzwerk, telefonieren, empfehlen ein vielversprechendes Profil – einige ehemalige Begünstigte, die heute in grossen Unternehmen beschäftigt sind, bleiben mit ihnen in Kontakt und zeugen von einem erfolgreichen Werdegang. Ein Beweis, dass in diesem Beruf das S und das P von „sozioprofessionell“ wunderbar zusammenpassen, wie der Auszubildende Jonathan angibt. „Nach gesundheitlichen Problemen wollte ich mein Leben wieder in die Hand nehmen. Die IV hat mich zur Uhrmacherei geführt, und ich habe meine Ausbildung bei ORIF begonnen. Dort habe ich ein echtes Umfeld entdeckt, zwischen der Praxis in der Werkstatt und der Theorie im Technikum. Dort habe ich meinen Weg gefunden. Auch wenn ich heute in einem anderen Bereich arbeite, bin ich stolz auf meinen Werdegang sowie auf das, was mir diese Ausbildung gebracht hat.“

Ein soziales Unternehmen, ohne Subventionen

Sorgfalt ist nicht nur an der Werkbank gefragt, sondern auch bei der Verwaltung der Einrichtung. Das ORIF ist ein gemeinnütziger Verein, der sich jedoch vollständig selbst finanziert. „Wir erhalten keine Subventionen“, so Roméo Radice, Leiter der Standorte La Chaux-de-Fonds und Delémont. „Wir leben von den Aufträgen, die uns die IV erteilt. Das zwingt uns, wie ein Privatunternehmen zu arbeiten, mit Kosten, die gedeckt werden müssen, und einer sehr unternehmerischen Mentalität.“ Die Zahlen sprechen für sich: 3,7 Millionen Franken Jahreskosten, 22 Vollzeitstellen für 94 Begünstigte und mehr als 1500 Quadratmeter Werkstattfläche. Die jüngste Neuerung: eine Hausmeisterabteilung, die aus einem vor Ort festgestellten Bedarf heraus entstanden ist. „Wir sind ständig kreativ“, so Radice. „Das ist unsere Art zu existieren, sich anpassen, vorausschauen, ausbilden, und macht uns zu einem unverzichtbaren Akteur.“

Bei ORIF ist die Uhrmacherei viel mehr als nur ein Beruf: Sie ist ein Ort des Wiederaufbaus, wo die Präzision der Handgriffe mit der Aufmerksamkeit der menschlichen Begleitung einhergeht. Eine Art, daran zu erinnern, dass man der Zeit erst wieder einen Sinn geben muss, bevor man sie einstellen kann.

Nicole Kate

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