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Das Zeichnen im Dienst der Uhrmacherkunst

Im 18. Jahrhundert gab es keine öffentlichen Uhrmacherschule im heutigen Sinn. Die Behörden finanzierten jedoch die Gründung von Zeichenschulen, die der Industrie und dem Handwerk dienten.

In der kollektiven Vorstellung verbinden sich mit den Kunsthandwerken der Uhrmacherei akribische Handgriffe und raffinierte Verzierungen, verknüpft mit hoher technischer Komplexität. Seit etwa dreissig Jahren trägt die Fokussierung der Schweizer Uhrenindustrie auf den Luxusbereich dazu bei, die handwerkliche und hoch kunstvolle Dimension der Uhrmacherei in den Vordergrund zu rücken. Ihre Aufwertung ist ein zentraler Bestandteil des Marketing-Diskurses der Marken, die damit die Authentizität und Einzigartigkeit ihrer Kreationen betonen.

Die Fähigkeit der Handwerker, Schönheit zu schaffen, basiert bekanntlich auf einer künstlerischen Ausbildung, die ebenso wichtig ist wie jene der Technik. Diese Erkenntnis stammt aus dem 18. Jahrhundert, als man erkannte, wie wichtig es ist, Geschmack, Kunst und mechanische Objekte miteinander zu verbinden. Im Zeitalter der Aufklärung beschlossen die Behörden mehrerer Schweizer Städte daher, in die künstlerische Ausbildung der Handwerker zu investieren und nicht in die technische Ausbildung, die durch das Lehrlingssystem gewährleistet war. Diese so entstandenen öffentlichen Zeichenschulen sind die Vorläufer der modernen Schulen für angewandte Kunst.

«Toile en indienne», der Region Neuenburg zugeschrieben, um 1790, Stadt Neuenburg, Musée d’art et d’histoire.

Genf gründete die Einrichtung, die dem Rest des Landes als Vorbild dienen sollte. Nach mehreren Jahren der Vorbereitung verwirklichte die Stadt 1751 ein Projekt für eine Zeichenschule unter der Leitung des Genfer Graveurs Pierre Soubeyran. Die Einrichtung war zunächst für Kinder von Handwerkern im Alter von mindestens zwölf Jahren gedacht. Das Mindestalter für die Einschreibung wurde später auf zehn Jahre gesenkt, und erfolgte damit vor dem Beginn der Lehre. Die Schule förderte das Zeichnen aus einer utilitaristischen Perspektive heraus und richtete sich in erster Linie an angehende Uhrmacher, Goldschmiede, Graveure und Maler.

Stiche, die die Arbeit der Künste darstellen, Mitte des 18. Jahrhunderts, Zeichnung von Pierre Soubyeran, Stich von Etienne Charpentier, todocollecion.net.

Das Studium der Figur bildet die Grundlage des Unterrichts, da die Figur eine wesentliche Rolle in den gemalten und gravierten Kompositionen spielte, die zur Verzierung von Uhren, Schmuckstücken und Kunstgegenständen aus Genf dienten. Soubeyran führte die Schüler auch in das mathematische Zeichnen mit Lineal und Zirkel sowie in das Zeichnen von Landschaften und Naturelementen ein. Der vom Lehrer – der übrigens auch Autor des Artikels „Montre, chaînette de“ (Uhr, Kette) in der „Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert ist – entwickelte Lehrplan zielte darauf ab, das künstlerische Empfinden der Handwerker zu schärfen und ihr Auge zu schulen, damit sie die Strukturen der Objekte und Körper erkennen, die sie in ihrer Arbeit reproduzieren sollen. Diese visuelle Ausbildung ist Teil einer umfassenderen Vision, in der die Schulung des Auges mit der Bildung und Verfeinerung des Geistes einhergeht. Sie ist übrigens nicht frei von kommerziellen Überlegungen. Ein gut vorgebildeter junger Mensch findet leichter einen Ausbildungsplatz, dessen Kosten er dank der bereits erhaltenen Ausbildung begrenzen kann; ebenso ist ein Handwerker mit ästhetischem Gespür besser in der Lage, gelungene und damit begehrtere und teurere Stücke herzustellen.

Das Konzept war sofort erfolgreich, und die sechzig verfügbaren Plätze waren schnell vergeben, sodass eine Warteliste eingerichtet werden musste. Einige junge Leute mussten bis zu zwei Jahre warten, bevor sie aufgenommen wurden. Mehr als die Hälfte der Eingeschriebenen stammte aus der Genfer Fabrique, die die Berufe der Uhrmacherei, Goldschmiedekunst und Gravur vereinte.

Das Konzept machte Schule

Wie erwähnt, fand das Beispiel Genfs bald Nachahmer, insbesondere in der Deutschschweiz. Basel, Zürich und Bern interessierten sich in den 1760er Jahren dafür, Luzern und St. Gallen folgen in den 1780er Jahren. Einige Jahre vor der Revolution lässt sich auch die andere grosse Uhrenregion der Schweiz vom Genfer Modell inspirieren: 1787 eröffnete die Stadt Neuenburg ihre eigene Zeichenschule für die wettbewerbsfähigsten Wirtschaftszweige des Kantons, nämlich die Uhrenindustrie und die Indienne-Weberei. Im Gegensatz zur Genfer Einrichtung ist die Schule in Neuenburg jedoch Teil eines umfassenden Bildungsprojekts. Sie wird von den Behörden ins Leben gerufen, nachdem die Stadt einen Grossteil des Vermögens des Neuenburger Kaufmanns David de Pury geerbt hat, der heute wegen seiner Verbindungen zur Sklaverei umstritten ist.

Neuenburg beschloss folglich, einen Grossteil dieser Gelder in die Reform seines Schulsystems zu investieren. Im Jahr 1787 führte dies zur Einführung der Schulpflicht für alle Kinder ab fünf Jahren, Mädchen wie Jungen. Die Einrichtung einer Zeichenschule war der zweite Schritt dieses ehrgeizigen Vorhabens, ergänzt durch die Gründung einer öffentlichen Bibliothek zur Förderung von Bildung und Industrie.

Im Dienst der Uhrmacherkunst erwies sich das Zeichnen schliesslich als vielseitig nutzbar, sowohl in ästhetischer, als auch in intellektueller und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Geschichte der öffentlichen Zeichenschulen des 18. Jahrhunderts zeugt von einer künstlerischen Ausbildung, die nicht nur als Zierde, sondern als kulturelle Grundlage und als wesentlicher Beitrag zum industriellen Gefüge eines ganzen Landes angesehen wurde.

Rossella Baldi

Titelbild: Veigneur frères, Taschenuhr mit Châtelaine, emaillierte Szene, inspiriert vom Werk Angelika Kauffmanns, mit Darstellung von Catull und Lesbia, um 1775, Stadt Genf, Musée d’art et d’histoire.

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