Lesezeit

4m 1s

Share

Wie die Schweiz die genaue Zeit bestimmt

In der guten alten Zeit wurde in den meisten Schweizer Haushalten das Radio kurz vor 12 Uhr 30 eingeschaltet. Dann ertönte nämlich das Zeitzeichen des Observatoriums Neuenburg und die damals ausschliesslich mechanischen Armband- und Taschenuhren wurden nachgestellt.

Das Zeitzeichen aus dem Observatorium wurde zuerst von astronomisch synchronisierten Präzisions-Pendeluhren, später von Quarz-Grossuhren generiert. Ihre Gangabweichung von einer Sekunde in Hunderten bis Tausenden von Jahren war für das Alltagsleben ausreichend. Das kantonale Observatorium Neuenburg nahm 1858 den Betrieb auf, nachdem es im Vorjahr vom ersten Direktor, einem tüchtigen deutschen Astronomen namens Adolf Hirsch, aufgebaut worden war. Diese auf Druck der Uhrenindustrie geschaffene Institution hatte drei Aufgaben.

Erstens sollte sie die genaue Zeit astronomisch bestimmen und mit Hilfe der genauesten damaligen Pendeluhren vor Ort erhalten. Zeitzeichen mussten per Telegraf an die Abonnenten (Uhren- und Chronometerfabrikanten) im nördlichen Teil des Kantons wie auch in den angrenzenden Kantonen Waadt und Bern übermittelt werden. Zweitens mussten hinterlegte Chronometer langfristig geprüft und zertifiziert werden. Daraus ergab sich der die Uhrenindustrie viele Jahrzehnte lang elektrisierende „Concours d’Observatoire“. Er wurde 1969 abgeschafft, als die ersten Quarz-Armbanduhren auf den Markt kamen. Drittens sollte das Observatorium astronomische Forschung treiben, was sich bald als unrealistisch erwies. Der Standort war dafür denkbar ungünstig. Dazu kam eine völlig ungenügende instrumentelle und personelle Dotierung.

Lange ignorierter Quarz

Immerhin wurden die zwei ersten Ziele zur allgemeinen Zufriedenheit erreicht. Wann immer der Sternenhimmel über Neuenburg sichtbar war, wurde mit dem Meridianteleskop (es war nur in der Deklination verstellbar) der Durchgang heller Sterne beobachtet. Daraus liess sich die von der Erdumdrehung definierte Lokalzeit berechnen und auf mehrere Präzisions-Pendeluhren übertragen. Falls der Himmel einmal lange bedeckt blieb, liess sich aufgrund der genau bekannten Gangabweichung dieser Uhren die einigermassen genaue Zeit berechnen. Damit konnte man leben.

Die ersten Quarz-Grossuhren wurden Ende der 1920er Jahre in den USA gebaut, bald danach auch in Deutschland, England, Frankreich und Japan. Damit konnte die Zeit auf die Tausendstel- und die Zehntausendstelsekunde genau gemessen werden. Doch das Observatorium wie auch die ganze Uhrenindustrie ignorierten diese bahnbrechende Innovation nahezu zwanzig Jahre lang. Erst als an der ETH Zürich die erste Schweizer Quarzuhr gebaut wurde, ging alles sehr schnell.

Oscilloquartz in Neuenburg, eine Tochterfirma des Rohwerkgiganten Ebauches SA, warb die Spezialisten der ETH ab und baute bald hochwertige Quarz-Grossuhren für Observatorien. Dadurch geriet die astronomische Zeitbestimmung immer weiter in den Hintergrund. Mit der Atomuhr, die in ihrer hochgezüchteten Form noch eine Gangabweichung von einer Sekunde in 30 Millionen Jahren aufweist, entkoppelte sich die Zeitmessung wie auch die Definition der Sekunde 1967 von der Erdrotation. Das Observatorium Neuenburg wurde 2007 geschlossen.

Funk- und GPS-Uhren

Heute sind die digitalen Zeitzeichen am Fernsehen massgebend. Zudem trägt fast jedermann eine Quarz-Armbanduhr, die höchstens einen Fehler von einer Sekunde pro Tag macht. Wer es noch genauer haben und nie nachstellen will (auch nicht beim Wechsel von Sommer- auf Winterzeit oder umgekehrt), investiert in eine Funkuhr aus Deutschland oder Japan. Noch raffinierter ist die GPS-Uhr, die einmal pro Tag die Verbindung mit jeweils vier Navigationssatelliten aufnimmt und sich mit deren Atomuhrenzeit synchronisiert. Solche Armbanduhren werden nur in Japan gefertigt. Ihre Abweichung von einer Sekunde pro Million Jahre kann man getrost in Kauf nehmen. Dank GPS wissen sie, wo sie sind und stellen sich von selbst auf die jeweils aktuelle Zeitzone ein.

Noch extremere Anforderungen an die Zeitmessung stellen die physikalische Grundlagenforschung sowie die Hochenergie- und Astrophysik. Für sie baute die Universität Neuenburg in Zusammenarbeit mit dem Metas (Eidgenössisches Institut für Metrologie, früher Amt für Mass und Gewicht) in Wabern bei Bern das Schweizer Primär-Frequenznormal FOCS-2 (Fontaine Continue Suisse).

Bunkergeschützte Zeit

FOCS-2 gehört zu den weltweit genauesten Atomuhren des Cäsium-Fontänentyps und weicht in 30 Millionen Jahren lediglich eine Sekunde von der genauen Zeit ab. Man hofft, dass das Metas mit FOCS-2 bald wieder einen Beitrag an die internationale atomare Zeit (Temps Atomique International, TAI) liefern wird. Neben der Forschung auf dem Gebiet der hochgenauen Zeitmessung, betreibt das Metas in einem gut geschützten, mit Notstrom versorgten Raum eine Gruppe von Cäsium-Atomuhren und einen Wasserstoffmaser, die zusammen eine äusserst stabile Zeitbasis bilden. Diese Zeitbasis – sie wird UTC(CH) genannt – steht als elektronisches Signal ununterbrochen zur Verfügung und wird zur Weitergabe an Kunden verwendet, die ihre Zeit- und Frequenzmessgeräte kalibrieren wollen.

Der Abgleich von UTC(CH) mit der koordinierten Weltzeit erfolgt über satellitengestützte Zeitvergleiche mit anderen Metrologie-Instituten. Damit ist aber die Entwicklung immer genauerer Uhren keineswegs abgeschlossen. In manchen Laboratorien stehen bereits optische Atomuhren, deren Gangabweichung höchstens eine Sekunde in zehn und mehr Milliarden Jahren beträgt. Sie dürften mittelfristig zu einer weiteren Neudefinition der Sekunde führen.

Bild: Das Schweizer Primär-Frequenznormal FOCS-2. Links die zylindrische Hülle der Cäsiumatom-Fontäne, rechts der optische Tisch mit den verschiedenen Lasern. P. Thomann