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„Wir lancieren eine Online-Verkaufsplattform“

In der ersten Jahreshälfte ist der Umsatz der Uhrenmarke Aerowatch um 30 Prozent gesunken. Jean-Sébastien Bolzli, Co-Direktor zusammen mit seinem Bruder Fred-Eric, nutzte den Lockdown, um die Digitalisierung seiner Marke zu beschleunigen. Dabei haben sie auch an die Einzelhändler gedacht.

Aerowatch wurde 1910 in La Chaux-de-Fonds gegründet. 2001 ist sie von Denis Bolzli übernommen worden. Die heute in Saignelégier ansässige Marke ist im mittleren Preissegment tätig und verfügt über etwa 500 Konzessionäre in 50 Ländern. 2019 sind rund 15’000 Uhren gefertigt worden. Wie die gesamte Branche ist auch Aerowatch stark von der Covid-19-Krise getroffen worden. Das Unternehmen mit rund 20 Mitarbeitern hat die Situation genutzt, um den digitalen Übergang zu beschleunigen. Im 110. Jahr ihres Bestehens tritt die Marke damit in eine neue Phase der Entwicklung. Ein Interview mit Jean-Sébastien Bolzli, dem Sohn von Denis, der das Unternehmen heute zusammen mit seinem Bruder Fred-Eric leitet.

Gold’Or: Wie haben Sie den Lockdown erlebt?

Jean-Sébastien Bolzli: Zuerst hatten wir ein bisschen Angst: Von einem Tag auf den anderen bekamen wir keine Telefone und E-Mails mehr. Und eine Woche später wurden 30 Prozent unserer Bestellungen entweder aufgeschoben oder storniert. Darauf folgte zunächst die Verschiebung, später die Absage der Baselworld. Ich hatte mich kurz zuvor schriftlich an die Messeorganisation gewandt, um mich bezüglich einer allfälligen Verschiebung zu erkundigen. Sie antworteten mir in einer eher verschleierten Weise, dass sie nicht die Absicht hätten, die Messe zu verschieben.

Aerowatch Les Grandes Classiques Edition Anniversaire 110 Ans, nummerierte Edition. Valjoux 7750, vollständig von Hand skelettiert; Edelstahlgehäuse (44 mm).

Wurden Ihnen die entstandenen Kosten erstattet?

Nicht ganz, aber wir sind zufrieden. Die Baselworld hatte zunächst eine Rückerstattung von 25 bis 28 Prozent angeboten. Aber der Vorsitzende des Schweiz Ausstellerkomitees, Hubert J. du Plessix, hat hervorragende Arbeit geleistet. Wenige Wochen später kam die Messeleitung mit einem überarbeiteten Angebot von 65 Prozent auf uns zu.

Die MCH Group, die die Baselworld organisierte, hat inzwischen die Planung einer neuen Messe in Basel, der Houruniverse, bekanntgegeben. Sie soll im April 2021 zeitgleich mit der Watches & Wonders in Genf stattfinden. Werden Sie daran teilnehmen?

Es ist noch zu früh, um das zu entscheiden. Die Baselworld hatte mich gebeten, einen Fragebogen mit rund 50 Fragen zu einer neuen Messe zu beantworten. Wir wurden eine Stunde vor der Pressemitteilung über ihre Lancierung informiert. Unsere Teilnahme wird von verschiedenen Dingen abhängen: erstens von den Kosten, zweitens von der Ausstellerzahl und drittens vom Prestige der Marken. Ich sehe mich selbst ungern inmitten von chinesischen Marken …

Was ist Ihre Alternative?

Wir könnten gleichzeitig zur Messe Watches & Wonders in einem Genfer Hotel ausstellen, so wie es wohl viele Marken tun werden. Es sei denn, der Uhrenverband FH oder die Genfer Wirtschaftsförderung unterstützen die unabhängigen Marken mit einer eigenen Messe.

Wie sind Sie bei der Lancierung Ihrer Neuheiten für 2020 vorgegangen?

Ausschliesslich digital.

Mit Erfolg?

Aufträge sind eingegangen, ja, aber nicht aus allen Märkten. Ich habe zum Beispiel keine Rückmeldungen aus Russland oder den Emiraten.

Hat der Lockdown die Digitalisierung bei Aerowatch beschleunigt?

Ja, wir haben uns intensiv damit beschäftigt und eine Online-Verkaufsplattform entwickelt. Mein Vater, der die Marke 2001 gekauft hat, war allerdings nicht besonders begeistert. Er wollte die Einzelhändler nicht ausschliessen. Also haben wir ein Direktvertriebssystem entwickelt, das den Endkunden mit einem unserer Konzessionäre verbindet. Der Händler erhält eine Provision und die Rückverfolgbarkeit ist gewährleistet, insbesondere für die Garantie und den Kundendienst. Aber die Uhr stammt nicht aus seinem Bestand, es handelt sich um einen zusätzlichen Verkauf.

Wie wurde dieses E-Shop-Konzept aufgenommen?

Sagen wir es so: Die Gespräche begannen meist schlecht, sobald ich den Online-Verkauf erwähnte. Aber viele Einzelhändler haben doch erkannt, dass sie sich dieser Entwicklung nicht widersetzen können. Unser System stärkt ihr Vertrauen, auch wenn sie ein wenig ihrer Marge verlieren werden.

Ist diese Plattform schon in Betrieb?

Wir hatten bereits eine solche Shop-Plattform in den USA und in Kanada, wo wir keine spezifischen Händler haben. Jetzt nutzten wir den Lockdown, um die Website in mehrere Sprachen zu übersetzen und lokale Währungen zu integrieren. Wir planen, den E-Shop noch im Sommer in der Schweiz und in Europa zu lancieren.

Glauben Sie, dass die „Points of Sale“ zu „Points of Touch“ werden?

Ich war seit Mitte Mai zwei Monate auf Händlerbesuch und konnte sehen, dass viele Kunden in den Geschäften waren. Die Einzelhändler werden niemals verschwinden. Dank ihres Sortiments und ihrer Erfahrung ist jedes Verkaufsgespräche umfassender und besser. Darüber hinaus sind sie für die Kunden bezüglich Armbänder, Batterien oder Probleme mit der Wasserdichtigkeit unverzichtbar. Aber sie benötigen natürlich auch viel Dynamik, um konkurrenzfähig zu bleiben.

„Die Einzelhändler werden nie verschwinden“

Die Einzelhändler garantieren auch den SAV-Kundendienst, was oft vergessen wird…

Das ist ein entscheidender Punkt. Aerowatch verlässt sich beim Kundendienst auf seine kompetentesten Einzelhändler. Dies ist eine wichtige Visitenkarte, verbunden mit geringen Wartefristen und angemessenen Preisen. Verschwindet diese, bekommen selbst grosse Marken Probleme.

Die Pandemie hat auch zu Versorgungsproblemen bei den Marken geführt. Haben Sie darunter gelitten?

Nein. Wenn wir in Basel neue Uhren präsentierten, waren diese bereits in Produktion. Diese Art der Antizipation ermöglicht es uns, schnell zu liefern. Wir hatten diesen Frühling also keine besonderen Probleme bezüglich Produktionsengpässe.

Wer ist Ihr Werklieferant?

Historisch gesehen kaufen wir Unitas-Uhrwerke von ETA, weil Aerowatch seit langem – und immer noch – ein Spezialist für Taschenuhren ist. Seit 2005 und der Einführung unserer Armbanduhren kaufen wir auch andere Kaliber.

Ändert die jüngste Entscheidung der Weko, die der Swatch Group keine neuen Lieferverpflichtungen mehr auferlegt, etwas für Sie?

Ich weiss es nicht. Aerowatch ist seit jeher ein treuer Kunde der Swatch Group. Gleichzeitig sind wir in den letzten Jahren aber auch zu einem Kunden von Sellita geworden. Genauso wie wir bei skelettierten Automatikwerken mit Soprod und für Quarzwerke mit Ronda arbeiten.

Anlässlich ihres 110-jährigen Jubiläums haben Sie soeben einen hübschen Chronographen in limitierter Auflage „Les Grandes Classiques – Edition Anniveraire“ lanciert. Es ist gut, sich durch Design zu differenzieren, inwieweit tun Sie dies auch über die Mechanik?

Wir sind aktuell auf der Suche nach geeigneten Partnern. Ich denke beispielsweise an eine High-End-Serie, in sehr kleiner Stückzahl, mit einer hauseigenen Entwicklung. Wenn wir aber an einer Zusammenarbeit mit anderen Akteuren interessiert sind, geht es vor allem auch um Qualität, und nicht um den Kauf chinesisch-schweizerischer Werke. Transparenz ist hier sehr wichtig.

Wie sehen Sie die Zukunft der Branche?

Ich bleibe Optimist. Einige Leute sagen voraus, dass etwa 50 Marken auf der Strecke bleiben. Das scheint mir viel zu sein. Richtig ist, dass viele Marken in den letzten 20 Jahren neu auf den Markt gekommen sind. Und nicht alle von ihnen sind unentbehrlich. Aber das Problem ist nicht dasselbe für den Zulieferbereich: Wenn sie hyperspezialisiert sind und eine Nische besetzen, werden sie die aktuelle Phase überstehen; alle anderen werden leiden. Das ist in vielen Fällen tragisch und gefährlich für die gesamte Uhrenindustrie. Vor allem habe ich Angst, dass wir damit wichtiges Knowhow verlieren.

Bild: Aerowatch ist ein Familienunternehmen (vlnr): Fred-Eric Bolzli, technischer Direktor; Jean-Sébastien Bolzli, Marketingchef; Adeline Bolzli, Chefin Administration.

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