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Perlmutt – ein natürlicher Verbundwerkstoff

Perlmutt entsteht durch Biokristallisation, eine wissenschaftliche Disziplin, die noch in den Kinderschuhen steckt. So wissen wir erst in Umrissen, wie es lebende Organismen fertigbringen, komplexe Verbundwerkstoffe in der anatomisch korrekten, der Funktion perfekt angepassten Form auszubilden.

Perlmutt besteht aus mindestens 95 Prozent Calciumcarbonat, vorwiegend in der orthorhombischen Strukturvariante, die als Aragonit bezeichnet wird. Orthorhombisch bedeutet, dass die drei Achsen der kristallinen Elementarzelle senkrecht zueinanderstehen, aber nicht gleich lang sind. Neben Aragonit sowie Spuren von Calcit und Wasser, findet man im Perlmutt drei bis vier Prozent organischer Substanzen. Es handelt sich primär um sogenannte Skleroproteine, die aus den Aminosäuren Glycin, Alanin und Serin aufgebaut sind. Man bezeichnet sie als Conchiolin; abgesehen von den Skleroproteinen enthält Perlmutt auch Glycoproteine und Polysaccharide.

Der Aragonit im Perlmutt liegt als plättchenförmige, in der Schalenebene der Muschel parallel zueinander gestapelte Kristalle vor. Ihre Kantenlänge beträgt 5 bis 15 Mikrometer, ihre Dicke reicht von 0,1 bis 0,3 Mikrometer. Abgesehen von seiner enormen Festigkeit und äusserst glatten Oberfläche beeindruckt Perlmutt durch eine matte Lichtreflexion und eine äusserst ansprechende Irideszenz. Letztere ergibt sich aus der Interferenz oder Überlagerung von Lichtstrahlen, die an den parallelen Kristalloberflächen reflektiert werden.

Die kristallinen Aragonitlamellen im Perlmutt sind von einem als Klebstoff wirkenden Proteinfilm umgeben, ähnlich wie bei der Kombination von Backsteinen und Mörtel in einer Mauer. Dank dieser Struktur wird die Festigkeit des Verbundwerkstoffs im Vergleich zu den spröden und zerbrechlichen Aragonitkristallen um das Tausendfache erhöht. Gelänge es, dieses von der Natur schon vor Urzeiten verwirklichte und genetisch von Generation zu Generation übertragene Konzept zu kopieren, könnte eine Revolution im Bauwesen ausgelöst werden.

Verbundwerkstoff nur für kleine Objekte

Zugegebenermassen ist die Natur im Bereich der Verbundwerkstoffe unseren Materialwissenschaftern weit voraus. Doch schliesslich brauchte sie Hunderte von Jahrmillionen, um ihre Werkstoffe zur Vollendung zu bringen. Jedenfalls kann man sich auf der Perlmuttstruktur basierende, ultraleichte und hochfeste Baumaterialien vorstellen. Tatsächlich wurde schon wiederholt versucht, lamellenförmige Kriställchen mit Kunststoff zu einem perlmuttartigen Verbundwerkstoff zu strukturieren.

Allerdings erwies es sich als sehr schwierig und kostspielig, grosse, perlmuttähnliche Strukturen zu verwirklichen. Ähnlich ist es zum Beispiel bei den Vögeln, deren verblüffende Flugkünste ihren kleinen Abmessungen und ihrem geringen Gewicht zu verdanken sind. Sie lassen sich grundsätzlich nicht auf tonnenschwere Flugobjekte übertragen. Auf einem schwankenden und sogar vertikalen Zweig wird kein Flugzeug jemals landen können. Mit dem äusserst glatten Perlmutt kleiden viele Weichtiere wie Mollusken und Schnecken die Innenseite ihrer Schale aus oder bauen sie ganz daraus auf. Dieselbe Struktur wie Perlmutt weisen Naturperlen auf, doch dann sind die Aragonitlamellen in zwei Dimensionen gekrümmt, um kugel- oder tropfenförmige Gebilde entstehen zu lassen. Eine aufgeschnittene Perle weist darum eine an Baumringe erinnernde, konzentrische Struktur auf.

Perlen von kranken Muscheln

Früher dachte man, dass die Perlmuschel störende Fremdkörper wie Sandkörner in ihrem Inneren durch Umhüllen mit Perlmutt unschädlich macht. Aufgrund neuerer Erkenntnisse weiss man aber, dass nicht etwa Sandkörner, sondern durch Eindringen von Parasiten verursachte Zysten im Muschelgewebe die Bildung von Naturperlen auslösen. Dabei spielt die Grenzfläche zwischen dem lebenden Gewebe und der vorwiegend anorganischen, lamellenförmigen Aragonitstruktur eine zentrale Rolle.

Elektronenmikroskopie und Elektronenbeugung führten zum Schluss, dass die Oberfläche des Perlmutts sezernierenden Gewebes mit Proteinen bedeckt ist, die ein regelmässiges Muster bilden. Ihre aktiven Zentren binden Calcium- oder Carbonat-Ionen so, dass sie sich aufgrund ihrer Nachbarschaft ganz von selbst zum Aragonit-Kristallgitter zusammenfügen. Doch weitere Untersuchungen mittels Kernresonanzspektroskopie ergaben ein viel komplizierteres Baumuster. Danach bildet sich an der Oberfläche des lebenden Gewebes eine rund fünf Nanometer dicke Grenzschicht ungeordneten, also amorphen Calciumcarbonats, das sich erst nachträglich zu Aragonit umlagert und ordnet. In regelmässigen Abständen wird die Produktion der amorphen, anorganischen Substanz unterbrochen, zugunsten einer Protein-Zwischenschicht. Dann wird eine neue Lamelle aus Calciumcarbonat angelegt. Die amorphe Oberflächenstruktur der Aragonit Plättchen trägt wesentlich zu ihrer mechanischen Festigkeit bei, weil darin im Gegensatz zum Kristall keine Schwachstellen wie Spaltflächen und Bruchlinien vorgegeben sind.

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