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Nachruf Anton Bally (1946-2022)

Die Grenchner Familie Bally hat italienische Wurzeln. Man weiss, dass sie 1632 über den Gotthard zog und sich in Buchholterberg nordöstlich von Thun ansiedelte. Der 1946 geborene Anton Bally wurde 1962 von der ETA (der Uhrwerkproduzentin der Swatch Group) als Lehrling angestellt.

Doch dem hochbegabten jungen Mann ging die Lehre in Grenchen viel zu langsam. Er gab sie 1964 auf und schrieb sich an der Fachhochschule Biel ein, wo er 1968 als Ingenieur HTL in Mikrotechnik abschloss.

Anschliessend immatrikulierte sich Bally an der Universität Neuchâtel, um den Grad eines Uhrmacher-Ingenieurs zu erlangen. Nach zwei Semestern wurde er vom ETA-Chefkonstrukteur Urs Giger intensiv umworben. Er brach das Studium ab und trat in die ETA ein. Ballys erste Aufgabe war die Konstruktion eines 3,60 Millimeter hohen Automatikwerks von zwölfeinhalb Linien mit Kalenderscheibe. Es erhielt die Kalibernummer 2892 und war auf Anhieb ein Hit. Mit einem Dreizähler-Chronographenmodul entstand daraus das ebenfalls klassisch gewordene ETA-Chronographenkaliber 2894.

Aber Quarz war am Kommen: Fritz Scholl, der damalige ETA-Chef, machte Bally für den Technologietransfer zwischen der Ebauches-Forschung in Neuchâtel und der ETA in Grenchen im Bereich der Quarz-Analoguhren verantwortlich. Aus dieser Zusammenarbeit entstand auf der Basis des mechanischen ETA-Kalibers 2870 das Kaliber 9362. Diese Produktion lief 1976 an.

Konzept von Seiko

Im Kaliber 9362 übernahm man in etwa das von Seiko entwickelte Konzept eines Quarzarmbanduhrwerks; es umfasste einen mechanisch gefertigten 32 Kilohertz-Stimmgabelquarz, eine Silberoxidbatterie und einen selbstgefertigten Lavet-Schrittschaltmotor. Die integrierte Schaltung bezog man entweder von der Philips-Tochter Faselec in Zürich oder von Ebauches Electroniques Marin.

Parallel dazu entwickelte Bally eine Quarzversion seines Automatikkalibers 2892 mit identischen Abmessungen (Kal. 940.111). Dieses Werk wurde 1976 lanciert, es wurde zur Grundlage der ETA-Flatline-Werkfamilie. Anschliessend entwickelte Bally ein weiteres Quarzwerk, dieses Mal für Damenuhren. Bally führte diese Arbeiten vom Tagesgeschehen abgeschirmt in einem abgelegenen Büro der ETA ganz allein aus. Er war aber assistiert von Kollegen der Ebauches-Forschung in Neuchâtel.

Das grosse Wettrennen

Der Übergang zur Quarztechnologie hatte tiefgreifende Folgen für die Uhrenindustrie. Einmal erlitt sie scharfe Einbrüche im mechanischen Sektor. Zudem wurde viel Kapazität frei, denn ein Automatikwerk besteht aus etwa 150 Teilen, während es beim Quarzwerk nur etwa 100 sind. Zudem forderte der Markt kleine und sehr flache Quarzwerke, wo doch die allerersten, 1967 gebauten Quarzuhrwerke des Typs Beta 21 vom CEH in Neuchâtel mit 28,2 x 25,5 Millimeter riesig gross und dick waren, bei einer Höhe von 5,3 Millimeter.

Die ETA ging ab 1976 einen anderen Weg: Ihr Flatline-Kaliber von zwölfeinhalb Linien (Kal. 940.111) mit einer Höhe von 3,70 Millimeter war für die damalige Zeit ungemein flach. Ein Jahr später doppelte ETA mit dem Damenkaliber 950.001 von siebendreiviertel Linien nach, die Höhe von 3,10 mm galt als sensationell. Doch dann begann der mit Citizen und Seiko ausgetragene Kampf um die weltweit flachste, analog anzeigende Quarzuhr. Im Juni 1978 lancierte Citizen eine 4,1 Millimeter hohe rechteckige Quarzuhr mit den Abmessungen 23,7 x 20,0 Millimeter, deren Werk 0,98 Millimeter hoch war; mit der Batterie wurden es allerdings 2,25 Millimeter. Im November desselben Jahres folgte Seiko mit einer nur 2,5 Millimeter hohen Uhr, (Kal. 9320A) deren Werk mit Batterie 0,95 Millimeter hoch war. Die Citizen-Ingenieure andererseits überarbeiteten ihr Kaliber 7900 und rüsteten es mit einer flacheren Batterie aus. Sie stellten im Oktober 1979 eine 3,00 Millimeter hohe Variante vor (Kal. 7901), deren Werk mit Batterie nur noch 1,18 Millimeter hoch war.

Delirium I bis Delirium IV

In der Schweiz hatte man sich schon im Juli 1978 vorgenommen, die Barriere von zwei Millimeter für die Höhe der kompletten Uhr zu sprengen. Nach fieberhafter, wochenlang Tag und Nacht fortgesetzter Arbeit war das Ziel erreicht. Die damals weltweit dünnste Quarzuhr mit den Marken Concord, Eterna und Longines und der Bezeichnung „Delirium I“ (Kal. 999.001) wurde 1979 den Medien vorgestellt. Ihre Höhe betrug nur 1,98 Millimeter. Anton Ballys Team gelang eine weitere Höhenreduktion auf 1,44 Millimeter bei der Delirium II.

Bei Seiko wurde ebenfalls fieberhaft gearbeitet: Im Februar 1980 stellte das Unternehmen eine 1,54 Millimeter hohe Quarzuhr vor, die ein 0,89 Millimeter hohes Werk enthielt. Schliesslich übertraf die Delirium-Gruppe sich selbst und die japanische Konkurrenz 1980 noch zweimal: Das Anfang des Jahres vorgestellte, kleinere Damenmodell Delirium III war 1,68 Millimeter hoch, im Frühjahr 1980 folgte schliesslich die nur noch 0,98 Millimeter hohe Delirium IV. Es wurden davon lediglich 50 bis 60 Stück gefertigt, der Preis betrug stolze 60’000 US-Dollar.

Die verrückteste Uhr der Welt

Von der Delirium ging es weiter zur Swatch, die 1982 in den USA, 1983 in Europa vorgestellt wurde. Erfunden hatten sie die beiden ETA-Ingenieure Elmar Mock und Jacques Muller in ihrer Freizeit, eigentlich spasseshalber. Als die Swatch aufgrund provokativer Farbkombinationen und Muster zur verrücktesten Uhr der Welt aufstieg, wurde sie zum grössten Hit in der Geschichte der Uhrenindustrie und verkaufte sich in immer grösseren Millionenserien. Heute ist das 400 Millionste Stück längst überschritten.

Der seit 1978 als ETA-Generaldirektor fungierende Ernst Thomke schickte Bally Anfang 1982 nach Hongkong, um den Markt und das technische Potenzial der damaligen britischen Kolonie wie auch ihres Hinterlands kennenzulernen. Doch in Grenchen musste Thomke immer mehr Aufgaben im Zusammenhang mit der Reorganisation und Fusion der beiden Uhrenkonzerne Asuag und SSIH übernehmen. Er brauchte einen Stellvertreter, Bally wurde 1983 in aller Eile aus Hongkong zurückgerufen.

Mit der Zeit wurde Bally für die gesamte, nunmehr in der ETA zentralisierte technische Entwicklung verantwortlich, 1985 übernahm er den ETA-Direktionsvorsitz. Doch im August 2004 erhielt der erst 58jährige Anton Bally aufgrund einer sich anbahnenden chronischen Krankheit von seinen Ärzten den dringenden Rat, von der allzu stressigen operativen Leitung der ETA zurückzutreten. Dies tat er äusserst ungern, blieb aber eine wichtige Informationsquelle für Journalisten – unter Einschluss des Schreibenden. Nun ist er Ende Februar verstorben.

Lucien F. Trueb

Titelbild: Anton Bally (1946-2022) war bis 2004 Generaldirektor der ETA SA in Grenchen.

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